Leseprobe aus dem Autorenkreis

Günther Klemm

Faszination Dampfeisenbahn

Fast täglich mache ich einen Spaziergang von der Wohnung aus zum Bahnhof Radebeul-Ost. Die Lößnitzgrundbahn, oder wie wir Radebeuler sagen, der Lößnitzdackel, zieht mich irgendwie magisch an. Einerseits weil ich sehr an alter Technik interessiert bin und andererseits, weil ich bereits als Kind mit einer Dampflok Bekanntschaft gemacht habe.
Ein Cousin von mir, viele Jahre älter als ich, hatte Lokschlosser gelernt und war Lokführer geworden. Da er mit der Ausbildung gerade erst fertig war, setzte man ihn auf einer Nebenstrecke ein. In den Ferien besuchte ich ihn, ohne zu wissen, dass er Dienst hatte. Aber das war mein Glück. Er nahm mich am nächsten Tag mit und ich durfte vorn auf der Lok mitfahren.
Eisenbahnromantik pur! Es war eine kleine Lok, bei der Lok und Tender zusammenhängen. Sie zog wenige Personenzugwagen der dritten Klasse auf einer wenig befahrenen Nebenstrecke. Aber das war für mich unwichtig. Für mich war es das Schönste, vorn auf der Lok zu sitzen und alle Handlungen meines Cousins, des Lokführers und des Heizers zu beobachten. Das fand ich sehr spannend. Es begann ja schon damit, dass die Lok aus dem Lokschuppen an die Bekohlungsanlage fuhr, um Kohlen aufzunehmen. Danach dockte sie an die überdimensionale Pumpe an, um Wasser zu fassen. Dann wurde die Lok an die Waggons angekuppelt. Der Heizer schaufelte fleißig Kohlen in das Feuerloch, um genügend Dampf zu erzeugen. Schließlich sollte die Lok ja schwere Arbeit leisten.
Die Nadel vom Druckmanometer zitterte, als wollte sie anzeigen, dass jetzt genügend Druck vorhanden sei. Offensichtlich war wirklich genügend Druck vorhanden, denn plötzlich reagierte das Überdruckventil und der Dampf entwich mit lautem Zischen. Diese Vorgänge beeindruckten mich natürlich sehr. Die Technik, so viele Hebel und Armaturen.
Nach einer kurzen Kontrolle fand mein Lokführer alles in Ordnung und wir warteten auf das Abfahrtsignal des Schaffners auf dem Bahnsteig. Dann endlich ließ er seine Trillerpfeife schrill ertönen und hob die Kelle. Ein kurzer Pfiff der Lok, und der Zug setzte sich in Bewegung. Das „Zisch, Zisch“ wurde immer schneller und damit auch die Geschwindigkeit des Zuges. der Rauch aus dem Schornstein stieg gleichmäßig mit dem „Zisch, Zisch“ in die Höhe.
Auf mehreren Bahnhöfen hielt der Zug. Immer das gleiche Spiel bei der Abfahrt: Pfiff vom Schaffner, Kelle hoch, Pfiff der Lok und ab ging die Fahrt zur nächsten Station.
Was mich während der Fahrt etwas beunruhigte, war das starke Rütteln und Schütteln der Lok. Man konnte glauben, wir würden über Kopfsteinpflaster und nicht auf Schienen rumpeln. Mein Cousin beruhigte mich aber und meinte, das wäre normal. Wir befänden uns auf einer Nebenstrecke, wo die Gleise alt und nicht so exakt verlegt wären. Eine Lokomotive ist zudem nicht so gefedert wie die Personenwagen.
Nach etwa einstündiger Fahrt erreichten wir den Zielbahnhof. Die Lok musste umgesetzt werden. Ich staunte natürlich, dass sich die Lok jetzt rückwärts vor dem Zug befand. Mein Cousin klärte mich auf , dass eine Lok rückwärts genauso fahren kann wie vorwärts. Ich ließ mich überraschen. Und tatsächlich ging es. Es hatte sogar den Vorteil, dass der Rauch aus dem Schornstein nun nicht mehr in den Führerstand gelangte, denn während der Hinfahrt passierte das häufig. Der Fahrtwind trieb ab und zu ein paar kräftige schwarze Rauchschwaden zu uns herein. Ich musste nicht nur husten, ich war wie die Lokbesatzung leicht geschwärzt. Zwar schwarz im Gesicht, aber glücklich über das für mich außergewöhnliche Erlebnis kamen wir wieder auf dem Ausgangsbahnhof in Oschersleben an.
Wenn ich heute auf dem Bahnhof in Radebeul stehe und das geschäftige Treiben der Zugbesatzung beobachte, sind auch immer viele Schaulustige da, die das ebenso interessant finden wie ich. Vor allem Eltern oder Großeltern mit kleinen Kindern sind sehr aufmerksame Zuschauer. Die Kinderaugen glänzen vor Begeisterung, wenn die Lok umgesetzt und an die Waggons angekoppelt wird. Und es passiert das gleiche Spiel des Ablaufs wie in meiner Kindheit: Pfiff vom Schaffner, Kelle heben, Pfiff der Lok und ab geht die Bahn. In diesem Moment schließe ich unbemerkt meine Augen und fühle mich als 82 Jahre alter Mann wieder in meine Kindheit versetzt.

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